Ergun Can: „Wo sind wir gelandet?“

Zu einem Gespräch mit Carsten Kohlmann war am Sonntag Ergun Can ins Schramberger Schloss gekommen. Dabei ging es um Cans Buch „Vom Bosporus zum Nesenbach – und zurück?“ Insbesondere aber auch um Cans Kindheit und Jugend in Schramberg.

Schramberg. Zu der gut besuchten Matinee im Schloss-Foyer hieß Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr die beiden Schramberger Ehrenbürger Hans-Jochem Steim und Herbert O. Zinell, ihren Amtsvorgänger Thomas Herzog, die frühere Museumsleiterin Gisela Lixfeld und viele Wegbegleiterinnen und Freunde von Ergun Can willkommen.

„Das Buch erzählt eine Geschichte, die es oft gibt, und die nicht oft genug erzählt werden kann“, so Eisenlohr. Nämlich die Geschichte einer gelungenen Integration. Es sei ein konstruktiver Beitrag zur Debatte um Migration und Integration. Cans Lebensweg lese sich wie eine Erfolgsgeschichte: vom kleinen Bub zum Betriebsratsvorsitzenden und Stadtrat in Stuttgart. Es sei aber auch die Geschichte „eines Menschen ‚zwischen zwei Welten‘.“

Dorothee Eisenlohr. Foto: him

Carsten Kohlmann, der Can auch schon viele Jahre kennt, begrüßte mit „Günaydin“. Das sei so viel wärmer als unser „guten Morgen“ und bedeute sehr poetisch „Möge der Tag hell sein“. Ergun Can sei nach Cem Özdemir wohl einer der bekanntesten Schwaben mit türkischen Wurzeln.

Freunde Lang und Reuter

Kohlmann wollte wissen, was Can veranlasst habe, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Can berichtete von der langjährigen Freundschaft zum früheren ersten Bürgermeister in Stuttgart Gerhard Lang und zum früheren Mercedes-Chef Edzard Reuter. Beide hätten ihn bedrängt: „Das musst Du aufschreiben.“

Sie hätten ihm aber auch dabei unterstützt und beraten. Beide seien allerdings leider verstorben, bevor das Büchlein fertig war. Man habe immer wieder bei einem Glas Wein zusammengesessen und sich ausgetauscht. Da seien beide schon weit über 90 Jahre alt gewesen.

Die Balkanroute verbindet

Edzard Reuter habe eine ganz ähnliche Migrationsgeschichte erlebt. Seine Eltern waren vor den Nazis in die Türkei geflohen, als Edzard sieben war. Geflohen seien sie auf der Balkanroute mit dem Zug nach Istanbul. Reuter habe beim Kicken auf der Straße türkisch gelernt.

Ein paar Jahrzehnte später fuhr der 5-jährige Ergun in der anderen Richtung von Istanbul über München und Stuttgart nach Schramberg – und lernte beim Kicken auf der Straße deutsch. Dieses Erleben habe sie verbunden, erzählt Can.

Auf dem Sofa: Carsten Kohlmann und Ergun Can. Foto: him

Der „Türken-Johle“

Erguns Vater habe im Sägewerk mit angeschlossenem Baugeschäft von Franz Flaig gearbeitet, wußte Kohlmann.

Flaig habe einige Türken beschäftigt, und wegen seines „rau-herzlichen Umgangstons“ den Beinamen „der Türken-Johle“ bekommen. Flaig sei Briefmarkensammler mit Spezialgebiet Türkei gewesen.

Schwieriger Start

Can erinnerte an seine Familie in der Türkei. Der kleine „Tante-Emma-Laden“ des Großvaters habe Anfang der 60er Jahre die Familie nicht mehr ernährt. Deshalb sei sein Vater auf Drängen seiner Mutter 1962 zum Geld verdienen nach Deutschland gefahren. Zwei Jahre später holte er die Familie nach. Sehr zum Leidwesen der Oma, die darüber krank geworden und verstorben sei.

Als sie damals in Schramberg ankamen, „war alles grau, Schnee, die Tannen, das Tal…Wo sind wir gelandet?“ Gewohnt hätten sie im „Schützen“ in einer Dachwohnung. Dort hätten sie schnell Anschluss an andere Kinder gefunden.

Die Gastarbeiter

Von 1960 bis 1980, das sei die große Zeit der „Gastarbeiter“ gewesen, erinnerte Kohlmann. Im Jahr 2010 habe dann die Ausstellung „Zwischen zwei Welten“ im Stadtmuseum diese Zeit aufgegriffen. Die Menschen hätten „ein großes Bedürfnis“ gehabt, andere an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Guiseppe Agosta habe sich bei der Ausstellung große Verdienste erworben.

Er habe Schramberg damals als „sehr offen erlebt“, erinnert sich Can. Als Heranwachsender habe er erkannt, dass die Einheimischen nicht dran gedacht haben, dass die Neuankömmlinge eine eigene Kultur und Religion mitbrachten. Er habe dann zusammen mit der Stadtverwaltung Räume an der Oberndorfer Straße ausfindig gemacht, in denen die Türken wenigstens an den beiden wichtigsten Feiertagen in der Fastenzeit und beim Opferfest zum Beten zusammenkommen konnten. So sei die erste provisorische Moschee in Schramberg entstanden.

Heute gebe es in Schramberg vier Moscheevereine, die aber aus der Mehrheitsgesellschaft auch kaum jemand kenne, bedauerte Kohlmann.

Politisch interessiert

Ergun Can berichtete, ihn hätten Politik und gesellschaftliche Themen schon früh interessiert. „Ich wollte Bescheid wissen, um mitreden zu können.“ Er habe aber auch das Spannungsverhältnis der zwei Identitäten – türkische Herkunft und Deutsch-Sein – gespürt. Aber eins sei klar: „Schramberg war immer mein Anker.“ 1982 trat Ergun Can der Schramberger SPD bei und ist bis heute in der Partei.

Sein Vater habe darauf bestanden, dass zu Hause türkisch gesprochen werde. So sei er zweisprachig aufgewachsen, wofür er seinem Vater dankbar sei. Andererseits habe er die deutschen Tugenden wie Pünktlichkeit sehr verinnerlicht.

Kein Umzug nach Schramberg

Ergun Cans Ehefrau Schermin erzählte, wie sich die beiden über einen gemeinsamen Freund kennen gelernt hatten und wie sie, die Hamburgerin, der Liebe wegen in das „Dorf“ Stuttgart habe umziehen müssen. Als Ergun bei der Firma Kern-Liebers eine Stelle als Ingenieur antrat und ein Umzug nach Schramberg geplant war, habe sie gedacht, „nach Dorf nun Kuhdorf“.

Schermin Can erzählt, wie sie sich kennengelernt haben. Foto: him

Sie hätten damals schon den Notartermin für den Kauf eines Hauses in Schramberg gehabt, berichtet Schermin Can. Dann habe ihr Mann sie angerufen, der Termin sei geplatzt. Der Verkäufer habe das Haus einer christlichen Familie verkauft. Das habe sie sehr getroffen und ihre Entscheidung stand fest: “Nach Schramberg gehen wir nicht.“

Betriebs- und Stadtrat

Die Cans sind also in Stuttgart geblieben und Ergun Can wechselte zu einer Firma aus dem Siedle-Konzern. Dort ließ er sich für den Betriebsrat aufstellen und war später Konzernbetriebsratsvorsitzender. Auch im Stuttgarter Gemeinderat war er viele Jahre Mitglied.

Can gründete ein Netzwerk türkischer Mandatsträger vom Gemeinderat bis Europaparlament. Das habe ihm viele Kontakte bis ins Kanzleramt ermöglicht. Da das Netzwerk überparteilich war, habe man sich unstrittige Themen vorgenommen: Was passiert in der Pflege, wenn die erste Migrantengeneration pflegebedürftig wird? Wie kann der muslimische Religionsunterricht auf Deutsch gehalten werden? Wie können wir die Bildungschancen für Migrantenkinder verbessern?

Ausführlich berichtete Can auch, wie es zur Gründung der Falkensteinhexen kam und welche Rolle das Maskenschnitzen in seinem Leben gespielt hat. Er schnitze bis heute, so habe er letztes Jahr für die Söhne der Familie Ural Hansel und Bach-na-Fahrer geschnitzt.

Herz und Kopf

Im Titel des Buches stehe der Halbsatz „– und zurück?“ Was der bedeute, fragte Kohlmann abschließend. „Mein Herz sagt Türkei, aber der Kopf bestimmt“, erwiderte Can. Es sei ganz klar, dass er seinen Wohnsitz hier behalte, aber häufiger in die Türkei gehe.

Weshalb der türkische Ministerpräsident Erdogan in der „türkischen Community“ so viel Resonanz erhalte, könne er nicht recht nachvollziehen. Vielleicht fühlten sich viele der drei Millionen Türken in Deutschland nicht genug wertgeschätzt. Und Erdogan biete diese Wertschätzung. Can betonte aber, “ohne Bildung haben diese Leute auch in der Türkei heute keine Chance“. Manche würden zu schnell aufgeben bei uns, hätten nicht genug Durchhaltevermögen.

Am Ende des Gesprächs bedankte sich Can, es habe ihn riesig gefreut, so viele bekannte Gesichter zu sehen. „Das erfüllt mich.“

An einem Büchertisch der „Buchlese“ konnten die Besucherinnen und Besucher das Buch kaufen und von Can signieren lassen. Das Buch ist weiterhin in der Buchlese zu kaufen.

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... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.
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